Auch wenn das Thema wohl an vielen unbemerkt vorbeigegangen ist: Am gestrigen Donnerstag ist im EU-Rat ein besonders brisanter Vorschlag von der belgischen Ratspräsidentschaft gescheitert – zum Glück, darf man als Privatperson in der EU sagen. Die sogenannte Chatkontrolle soll ein Mittel im Kampf gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder sein, wäre aber mit einschneidenden Maßnahmen in die eigene Privatsphäre verbunden.

Organisationen wie Digitalcourage bezeichnen das Vorhaben sogar mit dem drastischen Wort Totalüberwachung: „Mit der Chatkontrolle stehen wir am Rande eines so extremen Überwachungsregimes, wie es nirgendwo sonst in der freien Welt existiert. Jeder Messenger soll quasi zur Überwachungs-Wanze werden.“

Vorangegangen war ein Vorschlag der EU-Kommission, wonach Anbieter von Messaging-Diensten, darunter Google und Facebook, aber auch Signal und Threema, verpflichtet werden können, ihre Dienste mit Hilfe von Software nach Missbrauchsdarstellungen von Kindern durchsuchen zu lassen. Zwar wurde der Vorschlag nach heftiger Kritik im Verlauf von mittlerweile zwei Jahren immer wieder angepasst, bot jedoch nach wie vor ein probates Mittel der anlasslosen Massenüberwachung.

Theoretisch könnte bei Durchsetzung der Chatkontrolle sogar der ahnungslose Familienvater, der ein Foto seines kleinen, nur mit einer Badehose bekleideten 2-jährigen Sohnes im Planschbecken im eigenen Garten per Messenger an die Großeltern des Kindes verschickt, ins Visier von Fahndern geraten, da Nacktbilder eines Kindes über einen Messenger-Dienst versendet worden wären.

Davon abgesehen ist eine solche Maßnahme mit den demokratischen Grundwerten und -rechten der EU unvereinbar und würde schwerwiegende negative Folgen nach sich ziehen. Die anlasslose Überwachung der privaten Kommunikation aller EU-Bürger und -Bürgerinnen stellt einen eklatanten Verstoß gegen das verbriefte Recht auf Privatsphäre dar. Als Mittel zur Bekämpfung von Kriminalität wie Kindesmissbrauch ist die Chatkontrolle zudem völlig ungeeignet, da Kriminelle einfache Möglichkeiten finden würden, diese zu umgehen. Stattdessen würden unvermeidbar viele unbescholtene Personen zu Unrecht überwacht werden. Renommierte Kinderschutzorganisationen lehnen die Maßnahme als unangemessen und unwirksam ab.

Signal und Threema drohen mit EU-Rückzug

Auch im Hinblick auf Datensicherheit und Verschlüsselung würde die Chatkontrolle über den Einbau einer Hintertür zu massiver Schwächung führen und Hintertüren für Hacker und Cyberkriminelle schaffen. Das Entwicklerteam des Schweizer Messengers Threema äußert sich diesbezüglich in einem Blogbeitrag zum Thema sehr kritisch:

“Sichere Kommunikationsdienste wie Threema wenden Ende-zu-Ende-Verschlüsselung an, damit niemand ausser der vorgesehene Empfänger eine Nachricht lesen kann, nicht einmal der Dienstbetreiber. Eine Hintertür in ein solches System einzubauen, ist, wie wenn man einem starken Kettenschloss ein schwaches Glied hinzufügt. Zwar kann die Regierung das Schloss nun ohne Schlüssel öffnen, aber auch jeder Einbrecher.“

Als Resultat drohte nicht nur Threema, sondern auch der hierzulande ebenfalls beliebte Messenger Signal mit einem Rückzug aus der Europäischen Union. Threema erklärte, „Wir werden zunächst alle Optionen (inkl. rechtlicher Schritte, technischer Workarounds etc.) sorgfältig prüfen, und sollte es keinen anderen Weg geben, werden wir andere Kommunikationsdienste aufrufen, die EU mit uns zu verlassen.“ Auch Signal-Chefin Meredith Whittaker positionierte sich in einem Statement klar gegen die Chatkontrolle und erklärte, dass Signal eher aus der EU verschwinden werde, als dass man die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung des Messengers aufhebe.

Nicht nur von Messenger-Diensten, auch von Organisationen wie Netzpolitik und Digitalcourage wurde im Hinblick auf eine geplante Abstimmung zur Chatkontrolle im EU-Rat Alarm geschlagen. Sie forderten in sozialen Netzwerken wie Mastodon auf, E-Mails an die deutsche EU-Vertretung im Digital-Ressort zu schicken und die entsprechenden Personen im EU-Rat auch telefonisch zu kontaktieren, um die Chatkontrolle zu stoppen.

Erst spätes definitives „NEIN“ aus Deutschland

Nachdem die Abstimmung zunächst für diesen Mittwoch, den 19. Juni, angesetzt war, wurde sie kurzerhand auf den nächsten Tag, den gestrigen 20. Juni, verschoben. Die Position der deutschen Vertretung war lange unklar, und es zeichnete sich zunächst ab, dass es eine vorläufige Einigung auf die Chatkontrolle geben könnte. Erst am Mittwochabend erklärte Bundesinnenministerin Nancy Faeser, dass Deutschland die Chatkontrolle ablehne und auch im EU-Rat dagegen stimmen würde.

Schlussendlich fand sich im EU-Rat, auch aufgrund der ablehnenden Positionen von Deutschland und Frankreich, keine Mehrheit für das Chatkontrolle-Vorhaben. Es ist bereits das zweite Mal, dass die EU-Staaten das Gesetz zur Chatkontrolle ablehnen: Im vergangenen Dezember ist bereits Spanien damit gescheitert, eine Einigung im Rat zu erzielen. Ganz vom Tisch ist das Thema allerdings noch immer nicht: Die Verhandlungen der EU werden weitergehen, und mit der Übergabe der nächsten Ratspräsidentschaft an Ungarn steht ein großer Befürworter der Chatkontrolle an vorderster Front. Es wird wohl auch in Zukunft noch weitere Proteste brauchen, bis dieses unsägliche Vorhaben in Gänze aufgegeben wird.

Der Beitrag Chatkontrolle der EU: Höchst umstrittenes Vorhaben ist vorerst vom Tisch erschien zuerst auf appgefahren.de.

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