Online Marketing ist langweilig und vorhersagbar geworden – oder liegen darin inzwischen seine Vorteile? Werfen wir kurz einen Blick auf die Trends für die digitale Werbewelt und schwenken dann zu dem, was Marketing in den nächsten Jahren wirklich verändern wird.  

1. Neue ID-Walls, alte Gardens 

Cookies – wofür man sie noch gebrauchen kann, muss jedes Unternehmen für sich selbst hinterfragen. Die eine Alternative gibt es nicht, aber 2024 wird das Jahr der ID-Lösungen. Durch das Login mit ID erhalten die User höherwertigen Content und stimmen der Nutzung ihrer Daten zu, die dann eine einheitliche Qualität haben. 

Mehr dieser Walled Gardens bedeutet aber auch: Budgets werden noch stärker in Richtung der All-in-one-Lösung Google fließen, weil die einfach alles bietet, von Reichweite über Video-Ads bis Analytics. Die größeren Wachstumsraten prognostiziere ich allerdings für die, die von einer kleineren Basis aus starten: TikTok und Spotify haben noch jede Menge Potential, wenn sie ihre Dienste weiter entwickeln. 

TikTok ist am besten darin, Nutzer:innen zu binden – tut es aber bislang nur für Kurzvideos. Spotify hat alles, um Radio besser zu können als alle anderen: Es kann Musik und Nachrichten personalisieren und mit passenden Podcasts und relevanter, daten-getriebener Werbung mischen, macht das mit „Daily Drive“ aber erst halbherzig. 

13 Millionen Einwohner:innen, die nicht nur iPhones produzieren: Shenzhen, © Ralf Scharnhorst

2. Online Marketing repariert sich selbst 

Weil das direkte Tracking von Klick zu Bestellung immer schwieriger wird, flieht die Branche in andere Werbewirkungsnachweise: Am einen Ende werden zertifizierte Sichtkontakte in nachgewiesenen Umfeldern mit überprüften Menschen vor dem pixelgenau abgemessenen Bildschirm wichtiger. Am anderen Ende wachsen maximalkomplexe Marketing-Mix-Modellings, die zumindest mit statistischer Wahrscheinlichkeit eine Beziehung von Werbemittelsichtkontakt zu Kauf nachweisen. 

Das sind alles Trends, aber nichts wirklich Neues. Woher wird das wirklich neue also kommen? Wie immer aus der Hardware, der die Software beziehungsweise die Anwendungen folgen: So war es beim Computer und beim Smartphone. Nur AI ist etwas anders – hier breitet sich der Trend von der Software her aus und Online Marketer dürfen die ersten sein, die dabei sind. Aber der Reihe nach: Der Mensch macht sich überflüssig – sowohl geistig als auch körperlich. 

Robodog trägt Mensch: Testgelände auf dem Dach von Unitree, Hangzhou, China, © Ralf Scharnhorst

3. Humanoide Roboter sind der iPhone-Moment der Robotik 

Bislang wurde für jeden Zweck ein spezialisierter Roboter entwickelt, die meist an einen festen Platz in der Fabrik gebunden waren. Dann kamen Boston Dynamics, Teslas Optimus und Unitree, die universell verwendbare Vier- und Zweibeiner herstellen. Ihre Hardware soll so universell einsetzbar sein wie der Mensch. Für jeden Einsatzzweck entsteht eine Software. 

Zuletzt haben wir eine solche Entwicklung beim Schweizer Taschenmesser oder Smartphones gesehen, die nicht nur Nokia-Telefone und E-Mail Blackberries ersetzen, sondern auch Kameras, Navigationsgeräte, Radios und Taschenlampen. 

Drohnen sind die neue Dimension für Kriege, Roboter könnten eine neue Dimension in der Polizeiarbeit einleiten – je nachdem, was welches Volk akzeptiert, hier gilt: wachsam bleiben. Aber zurück zum Marketing: In Dubai tragen Menschen Werbe-Screens durch die Straßen. Das können Roboter 2024 besser und aufmerksamkeitsstärker. 

Aushang in einem Elektronik-Einkaufszentrum in Shenzen; Übersetzung: Google

4. KI killt uns alle – oder auch nicht

Marketing rühmt sich ja gerne selbst. Vielleicht bald auch, gleichzeitig die erste und die letzte Branche zu sein, in der Künstliche Intelligenz eingesetzt wird. Die erste, weil schon die unbeholfenste Bildbearbeitungs-AI Hinguckerbilder erzeugt hat – und manchmal reicht das ja schon im Marketing, was in der Medizintechnik tödlich wäre. Wir sind schließlich die einzige Branche, in der das Neue allein deshalb wirkt, weil es neu ist. 

Das letzte Einsatzfeld von AI könnte es dagegen werden, Konsument:innenbedürfnisse zu verstehen und aus Briefings von Marketing-Entscheider:innen Strategien abzuleiten, die es noch nicht gab: allein schon, weil die Entscheider:innen Menschen sind, die mit Menschen arbeiten wollen und es sich leisten können. 

Die Handarbeit vom Storyboard über die Bildbearbeitung bis zum Videodreh fällt der AI viel leichter als die Diskussion der Ausgangs-Situation von Produkt und Markt und daraus eine außergewöhnliche, mutige Strategie abzuleiten. Die Lösung: nicht Mensch gegen AI, sondern Mensch mit AI-Unterstützung.

Huawei – auch bei Autos dabei mit dem neuen Betriebssystem „Harmony“, © Ralf Scharnhorst

5. Europas neue Rolle: Freiheit und Datenschutz vereinen  

Die Welt wird bi- bis multipolar, Europa muss seine Rolle darin finden. Für das Internet bedeutet das: Nicht-Datenschutz nach amerikanischem Muster auf der einen Seite, Zensur nach chinesischen Muster auf der anderen – Europa muss für sich einen dritten Weg definieren auf Basis seiner Ideale von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. 

Dass Europa sich sogar mit eher schlecht gemachten Datenschutzgesetzen durchsetzen kann, zeigt sich daran, dass Kalifornien und Google die DSGVO zum Vorbild genommen haben. Bei Hard- und Software müssen wir Abhängigkeiten reduzieren. Aktuell gibt es nur drei konkurrenzlose Big-Tech-Unternehmen: ASML, Nvidia und OpenAI. Das werden die drei nicht lange bleiben – schon 2024, aber spätestens in den Jahren danach werden sie ihre Alleinstellung verlieren. 

An wen? Ohne Insider:innen-Wissen kann ich nur nach der Höhe der Entwicklungbudgets raten: Huawei, Apple, Samsung, AMD, Intel, Microsoft, Google und Amazon. 

China ist aufgestiegen vom Kopieren zum Kopiert-Werden, Quelle: Greenkern Consulting, © Ralf Scharnhorst

6. Chinas Machtübernahme fällt aus 

China überrollt den Westen schon alleine aufgrund seiner Bevölkerungsgröße und seiner aggressiven Wirtschaftspolitik? Was manche Expert:innen voraussagten, wird gebremst durch Chinas schrumpfende Bevölkerung und eine Rezession, auf die die Regierung möglicherweise irreführende Antworten findet. Indien und weitere asiatische Staaten stehen bereit, einzuspringen. 

Meine Interpretation: China wird zukünftig in allen Bereichen eine wichtige Rolle spielen, nach Mechanik und Elektronik auch immer mehr bei Software, AI und Halbleitern, aber nicht unbedingt führend. China kopiert nicht mehr nur, sondern China wird inzwischen kopiert. Für Europa eröffnet das Möglichkeiten, weil wir von neuen Ideen aus China so profitieren können, wie wir bisher von Ideen aus den USA profitiert haben. 

Shenzhen, © Ralf Scharnhorst

7. Die Marketing-Rezession kommt

Da braut sich etwas zusammen: Die für Marketing nutzbaren Daten werden schlechter, die Medien fragmentieren sich noch weiter, neue Werbeträger werden immer komplexer und die konsumstarken Zielgruppen genießen werbefreies Netflix, Amazon Prime und Spotify. 

Das ist aber noch nichts gegen die Herausforderungen bei den Werbung treibenden Unternehmen: Bei manchen Produkten ist die Nachfrage höher als die Produktion, bei allen steigen die Produktionskosten. 

Wir Marketer müssen Verständnis dafür haben, dass Unternehmen ihr Marketing-Budget meist aus dem Gewinn bezahlen und dafür nicht in die Verlustzone geraten wollen: Denn Marketing ist nun mal schneller steuerbar und weniger wichtig als Ausgaben in Forschung und Entwicklung. 

Was wir dennoch brauchen, ist eine Risikobereitschaft im Marketing, die der Entwicklungsabteilung ähnelt: Neues muss getestet werden – ohne Risiken kein Gewinn. 

Die großen chinesischen Internet-Unternehmen haben kein Gebäude, sondern eine eigene Stadt – hier JD.com, © Ralf Scharnhorst

8. Agenturen als Mit-Unternehmer:innen 

Dazu passt eine Innovation, den ich in Shanghai sah: Agenturen übernehmen mehr Risiko und Führung. Für mittelgroße europäische Marken übernehmen sie die komplette Prozesskette mit Import, Pricing, Vertrieb und Marketing. Ehemalige Werbeagenturen werden damit zum Handelsunternehmen für externe Märkte. 

Aber wer kennt die Konsument:innen am besten? Auch Händler:innen haben hier eine Chance: Wenn sie die Konsument:innen besser kennen, weil sie über mehr Daten verfügen als die Hersteller, könnten sie auch Marketing besser machen – und das ist etwas viel größeres als unser bisheriges Verständnis von Retail Media. Hier kommt es auf Größe und IT-Kompetenz an – nicht jede:r hat die Budgets und Entwickler:innenressourcen von Alibaba oder JD.com. 

Elektronik-Einkaufszentrum in Shenzen – auch mit Retail-Media-Screens, © Ralf Scharnhorst

9. Retail Media gerät in die Rezession 

Es war das letzte Wachstumssegment im Online Marketing, aber es lässt zunehmend Fragen unbeantwortet: Ist es nur die digitale Version der Regalmiete beziehungsweise Listungsgebühr und Werbekostenzuschuss oder soll es mal Branding werden? 

Wie kommt es weiterhin an die erforderlichen Daten im Austausch zwischen Shop und Marke? Für welche Anbieter:innen lohnt es sich, Retail Media selbst aufzubauen und wer wird die dominierende Plattform, auf der alle anderen es abwickeln? 

Durch virtuelle Welten laufen – im chinesischen Forschungslabor ganz ohne Brille, © Ralf Scharnhorst

10. Nur noch eine halbe These: Apple bringt die Datenbrille statt Facebook 

Vergangenes Jahr habe ich drei Thesen gebraucht, um zu begründen, weshalb es nichts wird mit der Facebook-Brille. Und nun setze ich mich in einer halben These für die Apple-Brille ein? 

Ja, freuen wir uns, wenn wir 2024 die neue Apple-Datenbrille ausprobieren dürfen. 

Und nein, sie wird keine Rolle spielen als Werbemedium, Marketeers können sich zurücklehnen. im Bereich der Werbevermarktung hat Apple bisher eher Flops produziert – und selbst Meta als werbefinanzierter Konzern, der eine günstige Brille für alle anbieten will, weiß ja noch nicht, wie man die Brille per Werbung bezuschussen könnte. 

Und die andere halbe These? Das Auto ist inzwischen zum Werbemedium geworden – und die Umsetzung ist bei weitem nicht so schlecht wie die Idee klingt – aber wir berichteten ja bereits von der DMEXCO und hatten es 2016 – allerdings als Aprilscherz und mit Brillen im Auto – vorhergesagt.

Nicht alle Prognosen treffen ein – damit habe ich mich selbstkritisch in diesem Text auseinandergesetzt. Das wichtigste an Prognosen ist, dass man sie mit seiner eigenen Meinung vergleicht und kontrovers diskutiert, dass man einen Plan A und einen Plan B hat. Und Termine und Kennzahlen setzt, nach denen dann die Entscheidung für einen davon fällt. 

Du bist anderer Meinung? Lass es uns in den Kommentaren wissen!

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